Der Weg des Bogens

Die Schriftzeichen für kyū – dō bedeuten “Bogen” und “Weg”. Daher ist die Übersetzung “japanisches Bogenschießen” eigentlich zu stark vereinfacht. Das Schriftzeichen für “Weg” hat seinen Ursprung in der chinesischen Lehre des Tao (jap. Aussprache ). Damit wird sowohl auf ein übergeordnetes Ziel, als auch auf das Bestreben und die persönliche Entwicklung dorthin gedeutet.

Ein Lehrsatz, der Kyudo vielleicht am deutlichsten für die Übenden definiert, ist hōsha – hicchū: “korrekter Schuss – unbedingter Treffer”. Auf den ersten Blick scheint dieser Satz vor allem einen schießtechnischen Hintergrund zu haben. Er bedeutet aber auch, dass der aufrichtige, ruhige Geist vor allem auf den Schützen selbst fokussiert ist—und nicht auf die Zielscheibe. Wird nach den Regeln geschossen, braucht man sich um den Treffer nicht mehr zu kümmern, denn der Pfeil wird zweifellos ins Ziel gehen. Hier sollte man aber keinesfalls dem weit verbreiteten Trugschluss folgen, das Treffen des Zieles sei bedeutungslos.

Die 8 Grundbewegungen

Den Kern der Kyudo-Lehre bilden die Shahō hassetsu, übersetzt “die acht Abschnitte in der Methode des Schießens”. Sie beschreiben die einzelnen Grundbewegungen, vom Einnehmen der richtigen Körperhaltung, über das Einnocken des Pfeiles an der Sehne, bis hin zur Endform nach dem Abschuss. Im Grunde genommen wird im Kyudo nichts anderes gemacht, als diese Schritte zu wiederholen. Was sich im Lauf der Jahre verändert, ist die Qualität und Sicherheit, mit der sie durchgeführt werden. Hinzu kommt das Erlernen verschiedener Taihai (Bewegungsformen), die etwa das Schießen alleine oder in der Gruppe, bei Demonstrationen oder Wettkämpfen, im Hinblick auf Harmonie und Etikette ermöglichen. Die intensive Auseinandersetzung mit dieser überlieferten Technik bildet für sich allein bereits einen faszinierenden Teil im Üben von Kyudo.

Kyudo ist Lernen

In unserem Zeitalter der schnellen Befriedigung und kurzweiligen Unterhaltung ist Kyudo ein Relikt vergangener Tage. Ehe man den japanischen Bogen und die Kunst, ihn zu führen, beherrscht, also Kyūdōka wird, braucht es schon mal zehn Jahre. Selbst dann nimmt das Lernen kein Ende.

Kyudo ermöglicht die lebenslange Weiterentwicklung des eigenen Charakters. Der Weg des Bogens ist geprägt durch fortwährendes Üben, harte Rückschläge, schwere Enttäuschung, aber auch viele Augenblicke der Klarheit und des Begreifens. All dies mit dem Ziel, den Menschen zu einem ausgeglichenen und gesunden Leben zu verhelfen, sie darin zu bekräftigen, sich positiv und respektvoll in die Gesellschaft einzubringen.

Im Kyudo gibt es keinen Gegner, den es zu besiegen gilt. Es gibt nur euch, euren Bogen, eure Pfeile und die Zielscheibe. Gerade hier liegt vielleicht der größte Unterschied zwischen Kyudo und dem westlichen Bogenschießen: das Wesen des Kyudo liegt nicht darin, das Ziel nur zu treffen. Ein Treffer auf einer Zielscheibe kann auf verschiedene Arten und Weisen vollbracht werden, nicht zuletzt durch Zufall. Stattdessen streben Kyūdōka danach, einen vollkommenen Schuss abzugeben. Als dessen natürliches Ergebnis wird der Treffer zur Nebensache.

Warihiza: Schießen aus der knienden Position.